Abruzzen, Gran Sasso... über alle Dächer Italiens!

Ursprünglich sollte es eine Querung des Stiefels von Ost nach West also von der Adria über die Marken, die Abruzzen, Umbrien und Latium werden und auf diesem Weg wollten wir den Gran Sasso, das Dach Italiens, mit dem Fahrrad queren. Herausgekommen ist eine beeindruckende Hochgebirgstour über aller Dächer und durch alle Obergeschosse, die die Bergwelt Mittelitaliens zu bieten hat: Den Gran Sasso mit dem Campo Imperatore, die Monti della Laga mit dem Lago di Campotosto und nicht zuletzt die Monti Sibillini mit der Hochebene von Castelluccio. Eine in jeder Hinsicht extreme Tour: Extrem beeindruckend und schön, extrem einsam und auf sich gestellt, extrem nahe an den Menschen und extrem anstrengend.

Für diejenigen, die diese Tour oder Teile davon nachfahren wollen, gibt es auf einer extra Seite, die den kompletten Tourenverlauf mit Streckenbeschreibung, Höhenprofile, Übernachtungen und Ristoranti sowie Anmerkungen und Verbesserungsvorschlägen speziell für Radler enthält.

 

Alle Bilder dieser Tour sind im Fotoalbum hinterlegt.

 

An der Adria sind wir morgens um 9 aus dem Nachtzug (Urlaubsexpress) gestiegen, der uns samt Räder bequem von München nach Porto San Giorgio gebracht hat. Mit uns das schöne Wetter, stabiles, für den Juni sehr warmes Hochdruckwetter, das für diese Tour unabdingbar war. Während in den Ebenen die Menschen bei über 30 Grad schwitzten, hatten wir in meist über 1.000 m Höhe einen angenehmen Frühsommer.

Der Start an der Küste hatte den Vorteil, dass wir eine Aufwärmphase im südmärkischen Hügelland fahren konnten, bevor es ins Hochgebirge ging und daß wir die eine oder andere schöne Provinzhauptstadt gesehen haben, für die sich der Tourismus nicht interessiert

Die Piazza del Popolo, einer der schönsten Plätze Mittelitaliens
Die Piazza del Popolo, einer der schönsten Plätze Mittelitaliens

Wer kennt sie nicht, die großen, schönen Plätze Italiens? Den Marcus-Platz in Venedig, die Piazza Navona in Rom und den Campo in Siena? Aber wer kennt die Piazza del Popolo in Ascoli Piceno? Fast niemand, schon gar kein Tourist. Denn Ascoli genügt sich selbst. Es ist schön, so wie es ist, und soll ruhig so bleiben. In der lebendigen Innenstadt spielt der Tourismus keine Rolle und wird offenkundig auch nicht vermisst. Alte Geschlechtertürme, große Palazzi und vor allem die zentrale und sehr harmonische Piazza del Popolo prägen das Stadtbild. Das Centro storico ist nicht zugunsten der Vorstadt verlassen, sondern im Gegenteil immer noch Mittelpunkt des städtischen Lebens. Ascoli ist eine der schönsten Provinzhauptstädte, die wir in Italien kennen.

Es wird anstrengender!
Es wird anstrengender!

Von Ascoli radelt man direkt am Fuß der ersten Höhenzüge der Abruzzen, die zur märkischen Seite hin steil zum Meer hin abfallen, ins Vomano-Tal, wo der Aufstieg ins Gran Sasso Massiv beginnen kann. Mit fast gleichbleibenden 4 % Steigung geht es Kilometer für Kilometer in die zunächst noch bewaldete Bergwelt. Ab 1.000 Hm weitet sich das Vomano-Tal, Wiesen und kahle Bergrücken treten in der Vordergrund und der Blick wird erstmals frei auf die Riesen des Grand Sasso: den Monte Corvo, Corno piccolo und Corno grande. Nur noch eine Hügelkette trennt einem vom Lago di Campotosto, einem Stausee auf 1300 Metern Höhe, der sich als Ziel geradezu anbietet.

Der Stausee ist der größte in Europa und fügt sich fast natürlich in die Landschaft ein. Begrenzt wird er von den Monti della Laga und dem Massiv des Gran Sasso. Mit seinem großartigem Grand Sasso Blick ist das lebendige Dörfchen Campotosto der idealer Standort für einen Pausentag oder eine Standorttour. Am Wochenende ist der See ein beliebtes Ausflugsziel für die italienischen Familien, unter der Woche ein einsamer Fleck Natur.

Auf dem Rückweg lohnt es sich, den See komplett zu umrunden. Die Westseite, auf der die Straße etwas wellig oberhalb des Sees zwischen Ginsterbüschen verläuft, bietet die schönsten Fernblicke.

Höhenprofil der Auffahrt in den Campo Imperatore - anklicken!
Höhenprofil der Auffahrt in den Campo Imperatore - anklicken!

Über den Passo delle Capanelle (1.300 Hm) verschafft man sich Zutritt ins eigentliche Gran Sasso Gebiet. Das 25 km lange Felsmassiv ist in zwei Ketten geteilt, aus denen etliche Bergspitzen zwischen 2.000 und 2.900 Hm hervorragen. Der Corno grande ist mit 2.912 Hm der höchste Berg des Appenins und trägt an seiner Nordseite den südlichsten Gletscher Europas. Davor breitet sich auf 1500 - 1800 Hm die eindrucksvolle Hochebene des Campo Imperatore aus, die man mit dem Rad gut erreichen und durchfahren kann. Bevor man die faszinierende Berglandschaft erreicht, geht es nochmals in zwei Etappen bis auf 1.600 m mühsam aufwärts. Zunächst durchfährt man eine große, grüne, nur mit Gras bewachsene Weite, auf denen man außer am Wochenende nur verwilderte Pferde, Schafherden und Kühe antrifft. Dann wird's steiler, die Straße schlängelt sich durch die Hügelwelt des Gran Sasso. Plötzlich überschreitet man die Kante und findet sich in einer Welt wieder, die zu Mitteleuropa nicht so richtig passt.

Man taucht ein in die fremdartige Welt des Campo Imperatore. Farben, Formen, Konturen und das eigene Empfinden wechseln gleichermaßen schlagartig. Zum Greifen nahe sind die riesigen Felsformationen des Corno grande, ein zerklüfteter Dolomitengipfel, der sich offensichtlich zu weit nach Süden verirrt hat. Verirrt in eine harte, karstige, gelb-braune Leere ohne uns vertraute Strukturen. Zunächst enger, dann weiter Grund. Die schmale Straße verläuft schnurgerade, die Perspektive lässt einem selbst verschwindend klein vorkommen.

unendliche Weiten...
unendliche Weiten...

4 - 6 % Steigung haben die meisten Bergstraßen in den Abruzzen und sind damit anstrengend aber angenehm zu pedalieren. Sie sind oft nicht das Problem einer Abruzzen-Expedition auf zwei Rädern. Die großen Entfernungen, die weit auseinanderliegenden Zielorte schon eher, die Unkenntnis der Besonderheiten dieser Bergwelt so weit im Süden und vielleicht auch eine falsche Einschätzung der eigenen Belastbarkeit. Eine Tour in den Campo Imperatore will und muss deshalb gut geplant sein. Sonst misslingt das unvergessliche Erlebnis.

Stabiles Wetter ist die wichtigste Voraussetzung. Das tritt nicht vor Mitte Juni auf den Plan, sonst braucht man Schneeausrüstung!

Man sollte die Ebene in West-Ost-Richtung durchqueren. Zum einen ist der Aufstieg von Westen her einfacher und in zwei Etappen möglich. Zum Anderen fällt die Ebene nach Osten hin ab. Und das Wichtigste: Es herrscht oben oft ein starker Nordwest-Wind, der jegliches Vorwärtskommen in Gegenrichtung fast verunmöglicht.

Man sollte morgens in die Ebene aufbrechen, d.h. nahe vor dem letzten Anstieg übernachten. Das ist deshalb so wichtig, da ab der Mittagszeit auch an einem schönen Sommertag Wolken aufziehen und die hohen Gipfel bedecken. Oft ist die Sonne verdeckt und es wird merklich kühler. Wir sind gar knapp einem Gewitter entkommen.

Neben dem Wintersportort Fonte Cerreto, der Hotels in ausreichender Zahl bietet, ist auch die verlockende Weiterfahrt von dort mit der Bergbahn zum Rifugio Campo Imperatore (2.300 Hm) möglich. Der Haken ist, daß die Funivia Mai und Juni unverständlicherweise nicht fährt.

Aus heutiger Sicht würden wir unbedingt 3 Tage einplanen, um die gesamte Hochebene mitsamt den angrenzenden Dörfern am Südhang zu erkunden. Als zweiter Standort bietet sich Castel del Monte an, von wo aus man den hinteren Teil des Campo über Capo di Serra anfahren kann.

Blumenpracht auf den wenigen Feldern der Südseite des Campo Imperatore
Blumenpracht auf den wenigen Feldern der Südseite des Campo Imperatore

"Pantani vive" haben einige Fans ihrem unvergessen Idol auf die Straße zu einem seiner legendärsten Giro-Siege gesprayt. Lesen können es außer uns nur die ausgewilderten Pferdeherden, einige Kühe und Schafherden und natürlich die Rennradfahrer, die oft in Gruppen mit Begleitfahrzeug diese einsamen Strassen zu Trainingszwecken bevölkern. Eine friedliche Mischung. Insgesamt sind die Abruzzen im Gegensatz zu den Alpen weder überlaufen, noch durch Skianlagen, Hotels und Ferienhäuser verunstaltet. Im Gegenteil man ist froh, einen Anlaufspunkt wie z.B. ein Rifugio zu finden oder zu wissen.

Im östlichen Teil, der wie eine einzige große Wiese imponiert, gibt es mitten in der Ebene vor dem Monte Camicia das Rifugio S. Francesco.

Im Juni blüht in der Hochebene des Campo Imperatore alles, was es dort so gibt. Das ist zwar nicht allzu viel, aber gibt in der Summe doch ein herrliches Bild ab: Gelb die Leguminosen, weiß die Margeriten, bläulich der Thymian und die Disteln, rötlich Dachwurzähnliche Bodenpflanzen. Auf dem steinig-weißen Boden eine Mischung, die in Europa ihresgleichen sucht. Aber nur für kurze Zeit: Schon einen Monat später verbrennt die Sonne alles zu einem braunen Belag.

San Stefano in Sessania
San Stefano in Sessania

Abbandonato - verlassen sind sie. Die Ortskerne der so malerisch gelegenen Bergdörfer San Stefano und Castel del Monte. Die Besitzer wohnen entweder am Ortsrand oder arbeiten im Ausland und kehren nur noch im Juli/August hierher zurück. Es fehlt schlichtweg die Lebensgrundlage: Auf der kargen Südseite des Grand Sasso ist mühsame Landwirtschaft nur sehr begrenzt in Zwischentälern und Gebirgseinschnitten möglich.

Dennoch sind sie gute Standorte für Wanderer und Radfahrer. Es gibt auch in jedem Ort eine annehmbare Unterkunft. Will man abends in die Trattoria, empfiehlt es sich allerdings, für italienische Verhältnisse frühzeitig aufzubrechen, denn man ist dort nicht immer auf Gäste eingestellt, und man sollte hinsichtlich des Speiseplanes flexibel sein.

L'Aquila, Piazza Duomo - vor dem Erdbeben 2009
L'Aquila, Piazza Duomo - vor dem Erdbeben 2009

Hört man unseren Pizzabäcker von schräg gegenüber - er ist Sizilianer - dann ist L'Aquila die kälteste Provinzhauptstadt Italiens und auch sonst eher zum Frösteln. Tatsächlich ist L'Aquila keine strahlende Schönheit, dafür war sie im Laufe ihrer Geschichte zu häufig durch Erdbeben zerstört worden und zeigt Baustile aller Epochen. Aber die Einwohner entfalten ein reges, immer interessantes Alltagsleben. Es gibt einen großen innerstädtischen Park, jeden Tag ist auf der Piazza Duomo ein großer, farbenfroher Markt und abends füllen die Menschen lautstark und lebensfroh die Stadt. Dazu gibt es eine große Auswahl an Ristoranti, Bars und guten Gelaterie... Für uns war es die pulsierendste Stadt der Reise; die pulsierendste, die wir seit Jahren erlebt haben... Auch wenn im März noch Schnee liegt.

Übersichtskarte
Übersichtskarte
Monti della Laga, vor Amatrice
Monti della Laga, vor Amatrice

Die Monti della Laga sind der zweite Gebirgszug, den wir zwischen dem Lago di Campotosto und Amatrice gelegen streifen. Dort herrscht Einsamkeit pur. Nur Wälder und Wiesen, ab und zu bietet eine entlegene Schäferei Ricotta, Pecorino und Fleisch zum Verkauf an. Außer Amatrice weit und breit kaum eine Ansiedlung. In der völligen Stille hört man nichts als das Blöken und die Glocken der Herden, dazwischen einzelne Vogelrufe und das Plätschern eines Baches. Die Tiere sind die legitimen Bewohner dieses Gebietes, der Mensch ist - so scheint es - nur ein geduldeter Gast.

Auffahrt über die Forca Canapine
Auffahrt über die Forca Canapine

In der Hochebene von Castelluccio hatten wir noch einen Koffer stehen. War es uns doch auf unserer Umbrien-Tour 2003 noch aufgrund widriger Witterungsverhältnissen verwehrt geblieben, nach der Auffahrt von Norcia in den Piano grande abzufahren.

Dieses Mal sollte alles anders sein! Schon tags zuvor hatten wir den steilen Anstieg von der steileren, adriatischen Seite her zum Pass Forca Canapine bewältigt und uns dort oben eingenistet. Dementsprechend war es uns tags darauf möglich, schon sehr früh vom M. del Sole herab einen Blick in den noch nebelgefüllten Kessel zu werfen, über den nur das auf einem Hügel gelegene Castelluccio herausragt - ein unglaublicher Anblick. 1/2 Stunde später, als wir über den Randwall gefahren waren, hatte die Sonne den Blick schon freigemacht für die Farbenpracht der blühenden Wiesen und Felder.

Ein ehemaliger eiszeitlicher Gletscher auf 1.300 m Höhe ist durch Menschenhand zu Wiesen und Ackerland verwandelt worden. Die klaren Linien der im Juni gelbblühenden Linsenfelder lassen den Piano Grande wie ein immenses, geometrisches Gebilde erscheinen. Gelbe Teppiche, braune, grüne Streifen dazwischen mit blauen und roten Flecken von Distel- oder Mohnfeldern, die sich vor dem Panorama des Monte Vettore den Hang hinaufziehen. Mittendrin auf einem kleinen Hügel das Dörfchen Castelluccio, an dem leider die Spuren des Wochenend-Tourismus deutlich zu sehen sind.

Bolsena hatten wir uns als Endziel der Tour ausgesucht - per riposarsi. In zwei längeren Hügellandetappen über Norcia das Neratal hinunter bis nach Narni und von dort durch das liebliche Amerina nach Bolsena ist der See gut zu erreichen. Ein im Juni sehr übersichtliches, sympathisches Örtchen, das zwar viele Bars, Läden und Eisdielen hat, aber noch auf Touristen wartet. Uns war es dort unten Ende Juni schon zu heiß, so dass wir die geplanten Abstecher in die Südtoskana haben ausfallen lassen.

So wurden es 3 herrliche Bummeltage, bevor es mit dem Nachtzug ab Florenz zurück in die Heimat ging.